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Vom Auswanderungsziel zum Ausflugsziel:

die Colonia Tovar in Venezuela

Ferdinand Bellermann: Venezuela - Colonie Tovar, 1844. Öl auf Leinwand; 16,8 x 32 cm. Foto: Jörg P. Anders. ©bpk, Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin

Eine der Konstanten der Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika ist das Phänomen der Migration. Die Bevölkerungsbewegungen verliefen jedoch im Laufe der Geschichte nicht linear. Nach Bernecker und Fischer (1992) können fünf historische Phasen unterschieden werden. Die erste Phase beginnt 1816/17 nach den europäischen Hungerkrisen. Das wichtigste Zielland war Brasilien. Die zweite Phase ist eine Spätfolge der europäischen Agrarkrisen (1846/47). Zwischen 1851 und 1859 emigrierten 23 000 Personen nach Lateinamerika. Seit 1850 bis ca. 1950 wurde Argentinien zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer in Lateinamerika. Die dritte Phase umfasst die Jahre 1866 und 1900 mit den Spitzenjahren 1885 (16 214 Personen) und 1894 (17 051 Personen) und einem Tiefstand zwischen 1900 und 1904 mit zusammen nur 3687 Auswanderern. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wanderten vor allem Arbeitslose und Verarmte nach Lateinamerika aus. In dieser vierten Phase waren es insgesamt 86 191 Personen. Die fünfte historische Phase ist durch die rassische und politische Verfolgung während des Dritten Reiches bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt. Zwischen 75 000 und 90 000 Personen flüchteten in dieser Zeit nach Lateinamerika.

Die soziale, ökonomische und kulturelle Zusammensetzung der Auswanderer, ihre Ursprungsorte und ihre Beweggründe für eine Auswanderung waren in all diesen Phasen unterschiedlich. Auch änderten sich die Merkmale der Auswanderung und die Zielorte in Lateinamerika. So war, zum Beispiel, die Migration in der Zeit des Nationalsozialismus vor allem politisch geprägt. Während des 19. Jahrhunderts machten sich dagegen viele Deutsche vornehmlich aus wirtschaftlichen Gründen auf den Weg über den Atlantik. Es gab auch aus politischen oder religiösen Gründen Verfolgte, die Zuflucht in lateinamerikanischen Ländern suchten; ihre Zahl war jedoch geringer.

Venezuela war eines der Zielländer der Auswanderer des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Brasilien ist es jedoch ein nicht so bekanntes. Eigentlich war es kein traditionelles Einwanderungsland für Deutsche, sondern eher für Italiener und Kanaren. Noch im Jahr 1870 lebten dort kaum mehr als 1000 Deutsche. Einen ersten größeren Schub ländlicher Zuwanderer aus Deutschland stellten 374 Siedler aus dem Kaiserstuhl und dem Schwarzwald dar. Sie landeten 1843 in La Guaira, um in die Region der heutigen Colonia Tovar zu ziehen. Auslöser für die Wahl Venezuelas war ein Gesetz zur Förderung der Einwanderung gewesen, welches 1840 erlassen wurde und einen Fördertopf aufgebaut hatte, einen "fondo de inmigración". Die Regierung Venezuelas versuchte gezielt, deutsche Auswanderer zu werben. Zum einen hatten sie einen ausgezeichneten Ruf als Kolonisten, den sie in Brasilien erworben hatten. Zum anderen hatte ihr Mutterland kaum politische Macht, so dass keinerlei Einmischung zu befürchten war.

Kolonisten vor der Schule der Colonia Tovar. Fotograf unbekannt, ohne Datum

Kolonisten vor der Schule der Colonia Tovar. Fotograf unbekannt, ohne Datum

Die deutschen Ankömmlinge aus dem Schwarzwald und vom Kaiserstuhl hatten es allerdings nicht leicht. Von ihnen waren 16 auf der Überfahrt gestorben; die übrigen mussten wegen der ausgebrochenen Blattern einen Monat in Quarantäne. In Tovar angekommen, stellten sie fest, dass es statt der versprochenen achtzig Wohnungen nur zwanzig gab. Auch war das zu besiedelnde Gelände nicht abgeholzt worden und die Straße dorthin nicht gebaut. Der eingesetzte Verwalter beutete die Siedler als Arbeitskräfte aus und hinderte sie am Verlassen der Siedlung. Erst nachdem ihn die Regierung 1845 seines Amtes enthoben hatte und 1852 das Siedlungsland den Familien überschrieben wurde, besserte sich die Lage. Zwischen 1858 und 1870 wurde die Siedlung zweimal ausgeplündert und einmal vollständig niedergebrannt. In den 1870er Jahren begann man erfolgreich, Kaffee anzubauen. Bereits 1877 gab es wieder 200 Einwohner in der Colonia Tovar; 1920 waren es 850.

Colonia Tovar. Foto: Illius 2010

Colonia Tovar. Foto: Illius 2010

Wesentliche Veränderungen für Tovar brachten in den 1940ern die Straße und die Eisenbahnanbindung: Caraceños bauten nun Ferienwohnungen in der Colonia. Weil das Umland zum "Wasserschutzgebiet" erklärt wurde und ab 1964 zum Touristengebiet ("zona turística"), wurde es immer schwieriger, Landwirtschaft zu betreiben. Bereits in den 1970er Jahren klagten die Bewohner der Colonia Tovar über die Lawine von Grundstücksspekulanten und Geschäftemachern, die sie überrollte.

Colonia Tovar. Fotograf unbekannt, ohne Datum

Colonia Tovar. Fotograf unbekannt, ohne Datum

Ein Experte für deutsche Auswanderungsgeschichte, Hartmut Fröschle, bezweifelte schon vor vierzig Jahren, dass "vom deutschen Charakter der Siedlung mehr übrigbleiben wird als ein bisschen kommerzialisierte Touristenfolklore." (1979:778) 

Heute kann man Hunderte von Einträgen über die Colonia Tovar in WebBlogs, Online-Reisetagebüchern und Webseiten von Globetrottern finden. Die Urteile der deutschen Besucher der Colonia Tovar reichen von "totaler Tourismusnepp" und "deutsches Disneyland" über "deutscher als manches Schwarzwalddorf" bis hin zu " WUN-DER-BAR !"

Colonia Tovar. Fotograf unbekannt, ohne Datum

Colonia Tovar. Fotograf unbekannt, ohne Datum

"Peter" (http://blog.viventura.de/venezuela/schwarzurwald) schrieb am 4.8.2008: "164 Jahre nach der Gründung der Colonia liegt das Hauptproblem der Identifizierung der Einwohner der Colonia Tovar darin, dass die Mehrheit der nachfolgenden Generationen niemals in der alten Heimat gewesen ist. 'Wir wüssten gerne, ob es im Schwarzwald wirklich noch so aussieht wie hier bei uns', sagen die beiden 30-jährigen Kellnerinnen Carmen Misle und Miriam Gutt."

Literatur

  • Ahrensburg, Hermann. 1920. Die deutsche Kolonie Tovar in Venezuela. Jena: G. Neuenhahn.
  • Bernecker, Walther L., und Thomas Fischer. 1992. Deutsche in Lateinamerika. In: Klaus J. Bade, Hg., Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland: Migration in Geschichte und Gegenwart, 197-214. München: Beck.
  • Fröschle, Hartmut. 1979. Die Deutschen in Venezuela. In: Ders., Hg., Die Deutschen in Lateinamerika, 767-805. Tübingen: Horst Erdmann Verlag.
  • Jahn Montauban, Leopoldo. 1990. La Colonia Tovar y su gente. Caracas: Banco Provincial.
  • Koch, Konrad. 1969. La Colonia Tovar. Geschichte und Kultur einer alemannischen Siedlung in Venezuela. Basel: Pharos-Verlag.
  • Torrijos Carmona, Ricardo. 1993. La colonia Tovar, 150 años (1843-1993). Baruta, Venezuela: Corprensa.