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Der Archivar des Alltags:

Robert Lehmann-Nitsche

Robert Lehmann-Nitsche (1872-1938). ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Robert Lehmann-Nitsche studierte Physische Anthropologie und Medizin an den Universitäten München, Freiburg und Berlin. Er promovierte an der Universität München in Anthropologie (1893) und Medizin (1897). Im Jahr 1897 bot ihm Francisco Moreno, der Gründer und Direktor des Naturkundemuseums von La Plata, die Leitung der Anthropologischen Sektion des Museums an. In dieser Stellung arbeitete er bis zu seiner Pensionierung 1930, als er nach Deutschland zurückkehrte.

Bereits kurz nach seiner Ankunft in Argentinien richtete Lehmann-Nitsche sein wissenschaftliches Interesse neben anthropologischen Fragestellungen auch auf folkloristische und ethnologische Themen. Er unternahm in den darauffolgenden Jahren zahlreiche Forschungsreisen nach Patagonien, Feuerland, in die Pampa und in den Chaco.

Centro Criollo "Raza Pampeana", Karneval in  La Plata, 1909. Fotosammlung Lehmann-Nitsche. ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Centro Criollo "Raza Pampeana", Karneval in La Plata, 1909. Fotosammlung Lehmann-Nitsche. ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Vor allem entdeckte er aber die urbanen Zentren am Río de La Plata mit ihren europäischen Immigranten, den Migranten vom Land und den vertriebenen Indianern als "Laboratorium" sozialen Wandels und kultureller Hybridisierungen. Er war somit einer der ersten Wissenschaftler, der systematisch Feldforschungen in der Stadt durchführte.

"Sie [die Indianer] haben sich indessen recht schnell an ihr neues Schicksal gewöhnt. Inzwischen wurden sie ins Heer, in die hier militärisch organisierte Feuerwehr oder unter die Schutzleute gesteckt und bewähren sich gut. Andere dienen als Pförtner, Hausdiener usw. Das gewöhnliche Volk macht keinen Unterschied zwischen sich und den Indianern, merkt oft gar nicht, daß es mit solchen zu tun hat. Es geht ihnen nicht besser oder schlechter als anderen. Das große Publikum, das immer gern mal Indianer sehen möchte, merkt gar nicht, daß der nächstbeste Schutzmann auf der Straße in Buenos Aires einer ist."
(Robert Lehmann-Nitsche: Märchen der argentinischen Indianer. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde in Berlin, 1906,2:157.)

Postkarte aus der Sammlung Lehmann-Nitsche. ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Postkarte aus der Sammlung Lehmann-Nitsche. ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Neugierig, mit offenem Blick und großer Sammelleidenschaft archivierte Lehmann-Nitsche unzählige Bild-, Ton- und Schriftdokumente, die die profunden kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen im Argentinien der Jahrhundertwende dokumentierten. Er sammelte Zeugnisse und Materialien, die die meisten Wissenschaftler seiner Zeit nicht beachteten, die jedoch heute von großem Wert sind: Fotografien, Postkarten, Zeitungsauschnitte, Werbezettel und Theaterheftchen.

Liebeslied der Mapuche ("Araukaner"). ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Liebeslied der Mapuche ("Araukaner"). ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Robert Lehmann-Nitsche spielte auch eine wichtige Rolle für die Etablierung der anthropologischen Wissenschaften in Argentinien. Ab 1903 unterrichtete er an der Universität Buenos Aires; im Jahr 1905 erhielt er darüber hinaus die erste Professur für Anthropologie an der Universidad Nacional de La Plata. 1910 organisierte er als Generalsekretär den XVII. Internationalen Amerikanistenkongress in Buenos Aires.

Ex libris zur "Biblioteca Criolla" Lehmann-Nitsches, einer umfangreichen Sammlung von Populärliteratur. ©Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin

Durch seine Publikationen trug Lehmann-Nitsche manches zum Argentinienbild in Deutschland bei; gleichzeitig machte er die Arbeiten seiner argentinischen Kollegen in Europa bekannt. Er schuf ein imposantes Netzwerk internationalen wissenschaftlichen Austauschs; - davon zeugen auch die über 5000 Briefe an über 1000 Korrespondenzpartner in seinem Nachlass im Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin.

 

 

 

 

Literatur über Robert Lehmann-Nitsche:

  • Bilbao, Santiago A. 2004. Rememorando a Roberto Lehmann-Nitsche. Buenos Aires: Ed. La Colmena.
  • Bremer, Thomas. 2008. Stichwort Argentinische Popularkultur: zur Bedeutung und Erschließung des Nachlasses von Robert Lehmann-Nitsche. Halle: Martin-Luther-Universität.
  • Danero, Eduardo María Suárez. 1978. Roberto Lehmann-Nitsche y su obra. In: Humboldt 67: 60-70.
  • García, Miguel A. und Gloria B. Chicote (Hg.) 2008. Voces de Tinta. Estudio preliminar y antología comentada de Folklore Argentino (1905) de Robert Lehmann-Nitsche. La Plata: Editorial de la Universidad de La Plata.
  • Hoffmann, Katrin, und Gregor Wolff. 2008. Ethnologie Argentiniens und internationale Wissenszirkulation: Nachlass von Robert Lehmann-Nitsche (1872-1938). In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 44:311-322. Berlin: Gebrüder Mann.
  • Masson, Peter. 1992. Funde – Mythen – Lebenswelten: Streiflichter zur kulturwissenschaftlichen Erforschung Amerikas am Beispiel des Werkes von fünf Forschern zwischen 1865 und 1945. In: Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Hg.) Amerika 1492-1992. Neue Welten – Neue Wirklichkeiten. Berlin: Berliner Verlag.
  • Parodi Lisi, Cristina, und José Morales Saravia. 1986. Immigración y literatura popular en el Río de la Plata: la "Biblioteca criolla" del fondo Lehmann-Nitsche en el Instituto Ibero-Americano de Berlín.
  • Torre Revello, José. 1994. Contribución a la biobibliografía de Roberto Lehmann-Nitsche. In: Boletín del Instituto de Investigaciones Históricas (Buenos Aires) 101-104:724-805.