Mexiko-Speicher:
Herbert Maier, ein nomadischer Maler
"… was Herbert Maier von seinen Reisen erwartet: eine Vertiefung des Blicks."
Stefan Tolksdorf
Ohne das Erlebnis der Maya- und Aztekentempel wäre sein Opus Magnum Speicher / Großes Mexiko, 2008/09 wohl kaum entstanden – auch nicht Hunderte von Aquarellen …
Das entspricht auch dem, was Herbert Maier von seinen Reisen erwartet: Eine Vertiefung des Blicks. Bildnerisch profitiert hat er von seinen Ausflügen in die Ferne immer; als Künstlerreisen inszeniert hat er sie nie. Auch seine Fotografie, die so viel verrät von seinem aufs Strukturelle zielenden Blick, war noch nicht neben seinen Bildern zu sehen – wahrscheinlich um eine allzu naheliegende Rückkopplung zu vermeiden. Maier ist kein Reisemaler und -erzähler; folglich malt er auch niemals nach Fotovorlagen. Erst nach vielen Stufen und Stunden der Sublimierung holen seine vielschichtigen Farbflächengefüge die fotografische Momentaufnahme wieder ein – im Sinne eines überraschenden Wiederentdeckens, einer Rekonstruktion des Gesehenen auf einer komplexeren Ebene.
"Es dominiert der Reiz des Fremden,
doch jede Form des Exotismus bleibt ausgespart"
Stefan Tolksdorf
… das exakte Porträt der Nischenpyramide in El Tajín füllt zwar eine Doppelseite, doch was hier veranschaulicht wird, ist vor allem das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen. Relevanter als das Architekturbild als solches ist für Maier die Zerlegung der Konstruktion in einzelne Sehfragmente, die Dialektik von Dekonstruktion und Rekonstruktion im Prozess des malerischen Erinnerns. Viel später werden die beleuchteten Stellen des Stufenbaus zu "Blickschwellen" und Intervallen, zu Rhythmuszeichen im großen Lasurbild. …
Immer war es Maiers Ziel, ohne Zuhilfenahme illusionistischer Volumina Fläche und Raum zu synthetisieren, genauer: den Blick zwischen beiden Sehweisen in permanenter Bewegung zu halten. Diesem Anspruch kommt er nun durch eine Bildarchitektur nahe, die vage an die Stufenordnung präkolumbischer Kultbauten erinnert. Doch könnte das ausschnitthafte Motiv auch eine Wand sein, massiv gefügt wie eine Festungsmauer. Alsbald aber weichen solche konkreten Asssoziationen der Vielschichtigkeit des Seheindrucks. "Schattenbalken" flankieren und unterteilen das Farbpanorama in fünf in die Horizontale gestaffelte Farbfelder. Das Verhältnis dieser dunklen Intervalle (oder sind es nicht vielmehr Öffnungen?) zu den pinselgestisch akzentuierten "Treppenblöcken" entspricht in der nächst kleineren Einheit dem einer rechteckigen Fläche zu einem gleich hohen transparenten "Lichtstreifen". Unter architektonischem Blickwinkel können diese schmalen Vertikalfelder als beleuchtete Kanten herausragender Quader erscheinen. Der Betrachter erlebt an diesem Umschlagpunkt des Sehens mitunter augentäuschende Perspektivwechsel. Tatsächlich aber sind die vermeintlichen Kanten nichts anderes als die beim Malprozess ausgesparten Durchblicke auf frühere hellere Farbschichten. Auf vordergründige Trompe-l'oeil-Effekte ist Maier nicht aus. Vielmehr auf die bildlogische Erfahrung einer Coincidentia oppositorum. …
Herbert Maier und "Speicher / Großes Mexiko". Eröffnung der Ausstellung im Morat-Institut (6.9.2009 – 4.9.2010). Foto ©Bruno Illius
Wie fragt doch spöttisch Arthur Schopenhauer: "Ist denn die Welt ein Guckkasten?" Nein – die touristische Ansammlung von Welt-Bildern hat Herbert Maier nie interessiert. Worum es ihm geht, ist ein vergeistigtes Sehen, das Schau-Lust und Intellekt, Zeiten und Räume gleichermaßen umspannt und Gegensätze dialektisch zu verknüpfen imstande ist.
Als Stufengefüge geht das Konstrukt perspektivisch allerdings nicht auf. Was bildarchitektonisch trotz mancher Irritation gerade noch funktioniert, besäße als reale Architektur keine Statik. Dieses Außerkraftsetzen perspektivischer Gewissheiten mit den Mitteln der reinen Flächenmalerei gehört zum erklärten Kalkül des Malers. Ebenso die in sich gegenläufige Schiebebewegung des Ganzen. Betrachten wir die durch rhythmische Striche mit dem breiten Pinsel aufgetragene Textur, konstatieren wir die Einheit zweier Gegensätze: Die ruhige Gefasstheit des Bildgerüsts kontrastiert mit der inneren Dynamik der Flächensegmente. Diese Dialektik wiederholt sich an weiteren im Bild versöhnten Gegensätzen: Ruhe-Bewegtheit, Fläche-Raum, simultane und sukzessive Wahrnehmung. "Heterotopien" nennt Michel Foucault Orte, in denen sich unterschiedliche Raum-Zeit und Sinnesschichten überlagern und durchdringen. Herbert Maiers "Speicher" wollen solche Orte sein.
(aus: Tolksdorf 2010)
Kataloge und Publikationen mit Abbildungen (Auswahl):
- Galerie Baumgarten, Freiburg, et al. (Hg.) 1998a. Herbert Maier. Die Aquarelle. Wuppertal: Nacke [Druck]
- Galerie Baumgarten, Freiburg, et al. (Hg.) 1998b. Herbert Maier. Die Holzschnitte. Wuppertal: Nacke [Druck]
- Galerie Baumgarten, Freiburg, et al. (Hg.) 1994. Herbert Maier. Waldkirch: Waldkircher Verlagsgesellschaft [Druck]
- Maier, Herbert. 1995. Skizzenbücher 93-95. 2 Bände im Schuber. Freiburg: Selbstverlag. [40 numerierte und signierte Exemplare.]
- Maier, Herbert. 2006. Montauk Songlines. In: Das Plateau 94:23-39. Stuttgart: Radius-Verlag.
- Maier, Herbert. 2007. Naturzeit – Gebautezeit. Kollnau: Burger [Druck]
- Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg et al. 1999. Herbert Maier. Ölbilder. Waldkirch: Burger [Druck]
- Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg (Hg.) 2004. Herbert Maier. Malerei. München: Matthes und Seitz.
- Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg (Hg.) 2009. Herbert Maier. Heidelberg: Edition Braus GmbH.
- Tolksdorf, Stefan. 2010. Herbert Maier. In: Künstler - Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 90, Heft 10:1-12. München: ZEIT Kunstverlag.