Die Größe der Kleinen:
Peter Lilienthals "Blick von unten"
Peter Lilienthal (*1929, Berlin) floh 1939 mit seiner Mutter vor den Nationalsozialisten nach Uruguay. In Montevideo betrieb die Mutter ein kleines Hotel. Nach dem Gymnasium studierte Lilienthal zunächst Kunstgeschichte, Jura und Musik an der Universidad de la República in Montevideo. Im universitären Filmclub sah er die Arbeiten von Vittorio de Sica und Jean Vigo. Zusammen mit Freunden aus dem Club drehte Lilienthal Kurzfilme über Probleme der Landbevölkerung und die Situation von Dienstmädchen, außerdem den Experimentalfilm "El joven del trapecio volante" (Der Junge auf dem schwebenden Trapez).
1954 kehrte Lilienthal nach Deutschland zurück. Erst in den siebziger Jahren wandte er sich mit mehreren Filmen wieder verstärkt Südamerika zu, nämlich mit: "La Victoria", "Es herrscht Ruhe im Land", "Der Aufstand" und "Das Autogramm".
"Alle meine späteren Lateinamerikafilme haben einen direkten oder indirekten Uruguay-Bezug. Besonders 'Das Autogramm', das zwar in Portugal gedreht wurde, das aber in allen Details eine uruguayische Kleinstadt erkennen lässt, natürlich ganz besonders den politischen Terror unter der Diktatur." (Peter Lilienthal, 2009)
Lilienthal illustriert und kommentiert die große Politik aus der Perspektive der kleinen Leute. Sein Ansatz ist empirisch und induktiv: Aufmerksam und liebevoll beobachtet er das Individuum, den Einzelfall. Er entwickelt aus diesem Blickwinkel des Einmaligen und Besonderen seine Haltung gegenüber dem übermächtigen großen Allgemeinen: skeptisch, ironisch und anarchistisch.
In einem Interview mit Klaus-Peter Eichele erklärte Peter Lilienthal: "Ich bin in Uruguay aufgewachsen, einer der ältesten Demokratien Lateinamerikas, die von einem Militärputsch völlig überraschend weggefegt wurde. Diese Erfahrung spiegelt sich in meinen Filmfiguren wider. Es geht immer um Leute, die nicht dazu geboren sind, Helden zu sein. Unpolitische Menschen, die von den Umständen überrascht werden und Überlebenskraft entwickeln. ... So ist es in den meisten meiner Filme. Die politischen Konflikte finden im Privaten, in der Familie statt und nicht in der hohen Politik." (nach: Pade 2004-2008)
"In seinen Filmen versammelt er eine Familie, Menschen aus aller Herren Länder, Schiffbrüchige und Grenzgänger, Träumer und Schnorrer. Es sind Menschen ohne Reichtümer, ohne eine sichere Position oder Macht, sie sind Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt und haben doch Hoffnung und Lebenslust nicht aufgegeben." (Michael Töteberg, 2001)
"Er nähert sich der Welt seiner Charaktere auf Zehenspitzen und mit einer Schweigsamkeit, als wolle er sie mit seiner Anwesenheit nicht verletzen. Als Protagonisten wählt er keine großen Helden der Geschichte, sondern verträumte oder von Schicksalsschlägen der Realität heimgesuchte Personen." (Antonio Skármeta, nach Töteberg 2001)
"Peter Lilienthal ist ein Kino-Zauberer. Er beherrscht das Kunststück, aus Banalitäten des Alltags wie den politischen Katastrophen des Jahrhunderts poetische Funken zu schlagen." (Michael Töteberg, 2001)
Der 80-jährige Peter Lilienthal, einer der wichtigsten Vertreter des Neuen Deutschen Films, wurde beim Filmfest München 2009 mit dem Ehrenpreis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet.
Über Peter Lilienthal:
- Buchka, Peter (Regie). D 1990. Wenn alles dunkel ist, möchte ich leuchten. Die filmischen Entwürfe des Peter Lilienthal. Portraitfilm. 60 min.
- Pade, Volker. 2009. Peter Lilienthal - reisender Kinozauberer zwischen den Welten. www.peter-lilienthal.de [Download 1.10.2009]
- Schlickers, Sabine. 1995. De la novela al cine: análisis narratológico-comparativo de "Cuarteles de invierno" de Osvaldo Soriano; "Das Autogramm" de Peter Lilienthal y "Boquitas pintadas" de Manuel Puig y de Leopoldo Torre Nilsson. In: Iberoamericana 19, 4 (60):20-47. Frankfurt am Main.
- Töteberg, Michael (Hg.) 2001. Peter Lilienthal. Befragung eines Nomaden. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren.