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Klänge und Bilder der Tropen:

ein Multimedia-Visionär im Urwald

"Wir Europäer haben, besonders nach diesem Krieg, am allerwenigsten das Recht, ein anderes Volk 'wild' zu nennen."
Koch-Grünberg, 1922

Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) im Jahr 1908. ©Ethnologisches Museum Berlin

Theodor Koch-Grünberg (1872-1924) im Jahr 1908. ©Ethnologisches Museum Berlin

Theodor Koch gab 1901 seine Stelle als Lehrer auf, um sich seinen Jugendtraum zu verwirklichen und "Indianerforscher" zu werden. Nachdem er bereits 1898 - als Fotograf - an der glücklosen Xingu-Expedition Hermann Meyers teilgenommen hatte, unternahm er in eigener Regie zwei erfolgreiche große Expeditionen. Nach der ersten Expedition nach Nordwestbrasilien (1903-1905) fügte er seinem Namen den seiner Heimatstadt hinzu und nannte sich fortan Koch-Grünberg. Die Ergebnisse der von 1911-1913 dauernden Expedition nach Venezuela wurden als "Vom Roroima zum Orinoco" (1916-1928) in fünf Bänden veröffentlicht.

Mayuluaípu diktiert Theodor Koch-Grünberg Mythen der Taurepán. Aus: Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 2, 1916

Mayuluaípu diktiert Theodor Koch-Grünberg Mythen der Taurepán. Aus: Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 2, 1916

Das eigentliche Ziel seiner Venezuela-Expedition, nämlich die Quelle des Orinoco zu finden, erreichte Koch-Grünberg nicht. Dafür wurde er durch die ethnographischen Studien berühmt, die er während der Reise und bei langen Aufenthalten unter mehreren Ethnien Venezuelas durchführte, vor allem bei den Taurepán (Taulipang) und Arekuná am Tafelberg Roraima.

Parishara-Tanzfest (1911) in Denóng am Fusse des Roraima. Aus: Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 1, 1917

Parishara-Tanzfest (1911) in Denóng am Fusse des Roraima. Aus: Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 1, 1917

Wahre Pioniertaten waren seine ethnographischen Film- und Musikaufnahmen. Mit Hilfe seines "Kinematographen" nahm er ein parishara-Tanzfest und mit dem "Phonographen" die dazugehörigen Gesänge auf. Die Probleme bei Transport und Instandhaltung dieser geradezu riesigen Geräte waren beachtlich. Mit der damaligen Technik war es zwar nicht möglich, Bilder und Klänge synchron festzuhalten; dennoch bereichern diese Medien unser Bild einer heute nicht mehr praktizierten Festkultur.

Die Filmaufnahmen zeigen uns die in langer Reihe eintreffenden parishara-Tänzer, zu erkennen an der charakteristischen Tanzkrone, deren herabhängende inajá-Palmblätter das Gesicht verhüllen. Dazu gehört ein Tanzrock aus dem gleichen Material. Die Vortänzer schreiten voran, schlagen mit dem Tanzstab auf. Bei jedem zweiten Schritt stampfen sie mit dem rechten Fuß auf den Boden, der Oberkörper ist leicht nach vorn geneigt. Die Frauen und Mädchen gehen dahinter, die rechte Hand auf der linken Schulter des Partners.

Beim tukuik-Tanzgesang bewegen sich die Tänzer untergehakt in Zweier- oder Dreiergruppen nebeneinander gegen den Uhrzeigersinn. Der tukuik (Kolibri) ist der Tanz aller Fische und Vögel; der parishara steht in Verbindung mit allen Vierfüßlern, schreibt Koch-Grünberg. Die heute übersetzten Tanzgesänge beschreiben auch die Herstellung der Instrumente, die Tanzkleidung und die Choreographie.

Tanzgesang, Walze 37. Erich von Hornbostel transkribierte und analysierte die mitgebrachten Wachswalzen in Berlin. Aus: Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 3, 1923

Tanzgesang, Walze 37. Erich von Hornbostel transkribierte und analysierte die mitgebrachten Wachswalzen in Berlin. Aus: Koch-Grünberg, Vom Roroima zum Orinoco 3, 1923

Der Musikwissenschaftler Erich von Hornbostel (1877-1935) transkribierte und analysierte die mitgebrachten Walzenaufnahmen, darunter einen parishara-Gesang der Taurepán.

Die bis heute einzigartigen Informationen Koch-Grünbergs zur Praxis der Zauberärzte belegen deren Aufgabe, durch ihren Gesang Kontakt mit den Berggeistern aufzunehmen, um die Seelen der Patienten zurückzuholen. Der Ethnologe bespielte drei Walzen mit Gesängen eines Zauberarztes der Taurepán. Der Text erklärt, dass die Seele des Patienten von den Berggeistern noch nicht bis ins Innere eines Tafelbergs entführt worden ist, sondern noch im Umfeld des Kranken selbst versteckt ist, was die Heilung leichter und wahrscheinlicher macht.

Diese Ritualgesänge unterscheiden sich jedoch erheblich von den rhythmisierten, relativ einfachen Festgesängen, zu denen gelegentlich bis zu tausend Personen gemeinsam tanzten.

Wenig Interesse hatte Koch-Grünberg an "neueren" musikalischen Gattungen wie areruya.  An Hornbostel schrieb er:

"Sehr erfreulich ist, dass vom europäischen Einfluss noch nichts zu spüren ist, außer bei den Tanzgesängen 'aus der Missionszeit' mit verdächtigem Titel 'areruya' (doch wohl Halleluja?), die denn auch sowohl melodisch, als in der Klangfarbe (Vortragsweise) vollkommen aus dem Rahmen herausfallen und einen ähnlich kläglichen Eindruck machen, wie die Kattunfetzen auf luftgewohnten Körpern."
(zitiert nach Mendívil 2006:37)

Dennoch nahm er drei Stücke dieses Genres auf, die heute die Grundlage für den Vergleich mit den rezenten areruya-Liedern und -Tänzen liefern.

Instrumente und Kleidung für den parishara-Tanz. ©Ethnologisches Museum Berlin

Instrumente und Kleidung für den parishara-Tanz. ©Ethnologisches Museum Berlin

Schließlich sang ein berühmter Schamane der Yekuana namens Manduca neben dem Repertoire aus seiner Heilpraxis auch Teile von Tanzliedern in den Phonographen. Ein glücklicher Umstand, da die Feder des Aufnahmeapparates kurz darauf sprang und das Gerät unbrauchbar wurde.

Nach neun Jahren als Museumsdirektor in Stuttgart schloss Koch-Grünberg sich 1924 dem Nordamerikaner Hamilton-Rice an, der von Brasilien aus zu den immer noch unbekannten Quellen des Orinoco vordringen wollte. Im ersten Jahr der Expedition erkrankte Koch-Grünberg an Malaria und starb in Vista Alegre am Rio Branco. Er wurde dort begraben, nach einiger Zeit aber exhumiert und auf dem Friedhof der brasilianischen Stadt Manaus am Amazonas in einem Ehrengrab beigesetzt.

(Matthias Lewy)

Literaturverzeichnis:

  • Hornbostel, Erich Moritz von. 1923. Musik der Makuschí, Taulipáng und Yekuaná. In: Koch-Grünberg 1923a:397-442.
  • Koch, Lars Christian, und Susanne Ziegler (Hg.) 2006. Theodor Koch-Grünberg, Walzenaufnahmen aus Brasilien (1911-1913) / Gravações em cilindros do Brasil (CD) (Historische Klangdokumente / Documentos sonores históricos). Berlin: Staatliche Museen zu Berlin, Stiftung Preussischer Kulturbesitz.
  • Koch-Grünberg, Theodor. 1916. Vom Roroima zum Orinoco: Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911-1913. Band 2: Mythen und Legenden der Taulipang- und Arekuna-Indianer. Berlin: Dietrich Reimer.
  • Koch-Grünberg, Theodor. 1917. Vom Roroima zum Orinoco. Band 1: Schilderung der Reise. Berlin: Dietrich Reimer.
  • Koch-Grünberg, Theodor. 1923a. Vom Roroima zum Orinoco.  Band 3: Ethnographie. Stuttgart: Strecker und Schröder.
  • Koch-Grünberg, Theodor. 1923b. Vom Roroima zum Orinoco. Band 5: Typen-Atlas. Stuttgart: Strecker und Schröder.
  • Koch-Grünberg, Theodor. 1928. Vom Roroima zum Orinoco.  Band 4: Sprachen. Herausgegeben von Ferdinand Hestermann. Stuttgart: Strecker und Schröder.
  • Kraus, Michael. 2006. Theodor Koch-Grünberg: Phonographische Aufnahmen im nördlichen Amazonas. In: Koch und Ziegler (Hg.) 2006:13-26.
  • Mendívil, Julio. 2006. Die Tonaufnahmen von Theodor Koch-Grünberg und ihre Bedeutung für die Vergleichende Musikwissenschaft. In: Koch und Ziegler (Hg.) 2006:27-42.
  • Ritter, Frederica de. 1979-1982. Theodor Koch-Grünberg: Del Roraíma al Orinoco (Traducción del alemán), Tomo I-III. Caracas: Banco Central de Venezuela.